Der Schokoladenweihnachtsmann

Bei uns im Ort führt ein wunderschöner Spazierweg über Brücken und am Flussufer entlang. Bei der alten Mühle am Wasser gibt es einen Erholungsplatz mit Kopfsteinpflaster, Bepflanzungen und Holzbänken. An einem frühen Nachmittag saß dort ein junger Mann mit einer Bierdose und starrte auf den Steinboden. Jarno! Wir kannten uns. Sogar ziemlich gut. Beim letzten Treffen hatte er selbstsicher und stattlich in Ritterausrüstung auf der Bühne gestanden. Jetzt blickte er mit einem leidenden Blick auf und säuselte flehend: „Komm, setz‘ dich doch mal bitte kurz zu mir.“ Er tippte vorsichtig auf den Platz neben sich. Jarno hatte vor Jahren einmal an einem meiner Theaterkurse teilgenommen. Er war ein recht stiller, etwas schüchterner Teilnehmer gewesen, der es dann, oft nach längerer Grübelei, auf der Bühne zu verblüffend guten Leistungen gebracht hatte. Es war jedes Mal, als ob in ihm ein anderer Mensch steckte, der nur durch das Theater zum Vorschein zu kommen vermochte. Er war Robin Hoods Helfer gewesen. Und Aschenputtels Prinz. Und einer der Schurken im Märchen Des Kaisers neue Kleider. „Hallo Jarno. Wo brennt’s denn?“ „Ich bin verliebt!“ „Aber das ist doch schön!“ „Ja, aber ich traue mich nicht, es ihr zu sagen!“ „Darf ich fragen, wer die Glückliche denn ist?“ „Ja, sie arbeitet an der Kasse im Supermarkt. Ich gehe da fast jeden Tag hin, nur um sie zu sehen. Jetzt gerade war ich auch da und habe mir dieses Bier gekauft, um mir ein bisschen Mut anzutrinken. Wie sie mich da lächelnd angesehen hat. Diese Grübchen. Diese Augen.“ Er klang verliebt. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Ja, wenn da ein Typ an der Kasse säße, den du umwerfend findest, was würdest du denn machen, damit er merkt, dass du dich für ihn interessierst?“ Ich dachte nach. Wir saßen schweigend ein paar Minuten auf der Bank und starrten jetzt gemeinsam auf das Kopfsteinpflaster. Zwischendurch ein Seufzen. Und dann: „Es gibt doch jetzt schon Schokoladenweihnachtsmänner. Kauf‘ einen und schenke ihn ihr an der Kasse! Du könntest auch ein Aufkleberchen mit deiner Telefonnummer vorbereiten und es dem Weihnachtsmann auf die Brust kleben. Dann kannst du nur noch abwarten.“ „Meinst du echt?“ „Ja, klar! Wenn du möchtest, kann ich auch mitkommen. Nur um zu sehen, dass du in letzter Sekunde nicht an der Supermarkttür abbiegst und nach Hause gehst.“ „Ja, also wenn du nichts weiter vorhast …“ Ich grabbelte kurz in meinem Rucksack herum und fand einen pinken Post It-Block. Im Federmäppchen steckte eine kleine Schere. „So, wir machen das jetzt. Das darf nicht mehr aufgeschoben werden.“ Er kritzelte seine Telefonnummer mit rührend klapperiger Junger-Mann-Handschrift auf den Zettel. Dann schnibbelten wir ihn schon einmal fertig in die richtige Größe und positionierten ihn probeweise auf meiner Wasserflasche. Jarno klebte ihn sich fürsorglich in sein Portemonnaie. „Aber zur Kasse gehst du dann selbst, verstanden? Ich kann da doch nicht wie deine Tante herumstehen und zugucken.“ Wir näherten uns dem Geschäft und lugten schief durch das Schaufenster herein, sodass sie uns unmöglich sehen konnte. Da saß sie und tippte gerade etwas ein. Eine hübsche junge Dame, er hatte völlig recht. „Ich gehe zuerst“, raunte Jarno. „Ok, ich komme gleich nach.“ Wir trafen uns rein zufällig am Schokoladenweihnachtsmannregal wieder. „Der hier.“ Es war ein prächtiger Kerl. „Und jetzt zur Kasse.“ Er sah mich verzweifelt an. „Komm, mach schon. Wenn du wirklich etwas willst, musst du dich auch dafür einsetzen. Ich warte hier hinter dem Gemüseregal.“ Es war nichts los. Ich spähte wie ein Detektiv über den Broccoli in Richtung Kasse. Der Weihnachtsmann fuhr gerade ahnungslos und ganz gemächlich auf dem Fließband in Richtung Glück. „Vier Euro neunzig.“ Jarno bezahlte. Die Verkäuferin stellte den Schokomann vor sich auf die kleine Plexiglastheke. Behände klebte Jarno das Post It -Zettelchen auf die Brust des Verführers, reichte ihn ihr und sagte so leise, dass es hinter dem Rettich kaum zu hören war: „Der ist für dich. Schöne Vorweihnachtstage!“ Sie lächelte ein wunderschönes Lächeln und wurde ein bisschen rot. „Danke gleichfalls!“ Sie hatte immer noch rote Wangen und sah wie vom Glück benebelt aus, als sie die Milchtüte scannte, die zehn Minuten später bei uns im Kühlschrank stand. Der Schokoladenweihnachtsmann hatte neben ihr auf dem Tisch einen guten Platz gefunden und sah ihr bei der Arbeit zu.

Etwa drei Wochen später liefen die beiden Hand in Hand am Flussufer entlang. Sie sahen sehr glücklich miteinander aus. Dieses Pärchen war viel zu leicht angezogen, aber den beiden war die Kälte bestimmt völlig egal, denn sie hatten ja sich. Beim Betrachten des Glücks überlief mich ein wohliger Schauer.

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