das Tor zum inneren Garten freibekommen
Doch wie
drosselt man das Tempo in dieser schnellen, vollgestopften Kalenderwuselwelt, in
diesem rasenden Zeitalter von E-Mails, Teams-Nachrichten, Social Media und
fordernden Chefs, Angestellten und Kunden, denen nichts genug ist? Wie wird man
das widerliche Gefühl los, nicht zu genügen und nicht genug zu schaffen? Wie
überlebt man in dieser Reizüberflutungskakophonie? Wie beruhigt man sich, um
das Tor zum inneren Garten zu finden? Und wenn man das Tor gefunden hat, womit
schneidet man das rankende Efeu ab, also all das, was einen am Öffnen der Tür
hindert?
Bisher
hatte ich zwei Burnouts. Durch das zweite Mal habe ich viel gelernt. Eigentlich
hat es den ganzen Prozess des Überdenkens der eigenen Lebensweise erst in Gang
gesetzt. Durch diesen fürchterlichen Rückschlag war ich zum Anhalten gezwungen
und habe dadurch das Tor zum inneren Garten entdeckt. Vielleicht war dieses
zweite Burnout nötig, um endlich selbst aktiv das eigene Leben in die Hand zu
nehmen und gnadenlos auszumisten. Es wäre viel eleganter gewesen, freiwillig
anzuhalten, als es gezwungenermaßen zu tun. Damit hätte man sich viel Kummer
erspart. Aber egal. Jedenfalls beginnt man den Prozess, indem man zuallererst
die überflüssigen Efeuranken abschneidet.
Es ist
erstaunlich, wie viele dieser Efeuranken man selbst kappen, Stress und Eile
also durch die eigene Handlungsweise vermindern kann. Wenn man ehrlich an das
Projekt herangeht, merkt man, dass die Efeuranken teilweise nur vor der inneren
Tür wachsen, damit man nicht Gefahr läuft, sich selbst begegnen zu müssen. Aber
genau diese Ranken müssen zuerst weg. Es kann sein, dass das Wegschneiden
dieser „Wegrennranken“ ein Tor freigibt, hinter dem sich ein sehr ungepflegter
Garten befindet. Das Wegschneiden der Wegrennranken ist ein sehr mutiger
Schritt, den man gehen muss, um das ganze Projekt überhaupt beginnen zu können.
Das Schlimme ist, dass einem diese Ranken schön erscheinen. Ach, was für wunderbar
dunkelgrüne Efeuranken das doch sind, es ist doch eine Schande, sie einfach so
abzuschneiden! Meine Wegrennranken waren: Abendunterricht an der
Volkshochschule, das Leiten einer Theatergruppe und Unterrichten eines
zusätzlichen Deutsch-Konversationskurses. Das Entfernen dieser drei Ranken
machten Luft an vier Abenden. Plötzlich hatte ich Zeit für Spaziergänge mit
einer Freundin, ein Vollbad oder einen Saunaabend. Oder ein gutes Buch am
Kaminfeuer. Zuerst dachte ich, dass es wehtun würde, das Theater und die
Deutschstunden aufzugeben, aber erstaunlicherweise machte sich stattdessen das
Gefühl der Erleichterung breit. Allein die freien Abende drosselten das innere
Tempo immens. Es lohnt sich also, sich von allen möglichen überflüssigen
Aktivitäten zu verabschieden, denn meistens macht man sie ehrlich gesagt nicht
(allein) deshalb, weil sie einem Spaß machen, sondern sie sind (jedenfalls
teilweise) vom Ego geleitet oder man versucht, dadurch irgendwie die Öde des
Tagesjobs zu kompensieren.
Und dann
macht man sich ans Abschneiden der Arbeitsranken. Auch das gibt es meistens
ziemlich viel zu kappen. Nach einer gründlichen Selbstbeobachtung und dem
Erforschen von Zeitfressern hatte ich eine stattliche Liste auf dem Tisch
liegen. Modern ausgedrückt befasste ich mich an jenem Morgen mit dem
Zeitmanagement und merkte, dass ich die zu Verfügung stehende Zeit viel
effektiver nutzen konnte. Und tatsächlich: Ich hatte plötzlich mehr Zeit, der
Stress ließ nach, ich wurde gelassener. Zunächst plante und strukturierte ich die
zu erledigenden Aufgaben und setzte Prioritäten. Indem ich das Multitasking
völlig aufgab, konzentrierte ich mich, ich vermied Fehler und gewann dadurch
Zeit. Und da ich wusste, dass ich zwischen acht und elf Uhr am effektivsten
arbeiten konnte, verlegte ich besonders schwierige und arbeitsaufwendige
Aufgaben auf diese Zeit und ließ mich während dieser Zeiten auch von nichts und
niemandem ablenken. Zu den „Niemanden“ gehörten zum Beispiel Laberer,
Klatschtanten und Leute an der Tür, die „eben mal was fragen wollten“. Für sie
war die Tür am Nachmittag offen. Zum „Nichts“ zählten sich beispielsweise
Social Media, E-Mails oder Telefonanrufe. Diese neue innere Ordnung, diese
Struktur, die mochte ich.
Jetzt
waren die Ranken des Tors zum inneren Garten freigeschnitten. Das Tor konnte
geöffnet werden. Der Schlüssel steckte in der eigenen Tasche. Und was ich da
hinter dem Tor fand, war zu retten, brauchte aber unbedingt Pflege.
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