Zufriedenes Seufzen

Wie's ganz genau passiert ist, weiss ich auch nicht, aber ich geniesse es. Gestern, als ich wieder mal auf dem grünen Sofa sass und mir beim Nippen am Kaffee bei aufgehender Sonne die finnische Winterwunderlandschaft ansah, dachte ich, dass ich mit dem Leben völlig zufrieden bin. Vorher hatte es immer irgendeinen Bereich im Leben gegeben, der verändert werden musste. Entweder waren die Arbeitsbedingungen unerträglich, irgendein Mitmensch nervte, es war draussen zu dunkel und zu kalt, ich hatte nicht genügend Zeit für Hobbies und so weiter und so weiter. 

Doch vor etwa einem Jahr, kurz nachdem ich Alfred Adlers Schriften gelesen hatte, begann sich etwas zu tun, und zwar im Inneren. Adler schuf eine lebensnahen individualpsychologischen Ansatz, die den Menschen aus seiner individuellen Lebenssituation heraus versteht. Sie beinhaltet auch, dass jeder, anstatt sich über Vergangenes zu grämen, selbst aktiv zu seinem Glück und dem seiner Mitmenschen beitragen kann. Hierzu muss man nach Adler aktiv und bewusst nach "der Überwindung der Minderwertigkeit" streben, allerdings, ohne sich oder anderen dabei zu schaden.  

Ich war so begeistert von diesen Schriften, dass ich die Theorien selbst praktisch anwenden wollte. Zuallererst begann ich, mein Tempo zu drosseln, denn wenn man rennt, kriegt man nichts von sich und der Aussenwelt mit. Danach entschloss ich mich für eine kritisch-freundliche Selbstbeobachtung und bemerkte, dass es eine ganze Menge zu verbessern gab. Deshalb beschloss ich, mir ein neues Ziel zu setzen. Statt mich auch weiterhin vom Ego leiten zu lassen, wollte ich jetzt eine solidere Basis und entschied mich für die Tugenden: Weisheit, Mut, Humanität, Gerechtigkeit, Mässigung und Transzendenz. Diese sechs Schönheiten sollten ab jetzt ineinander verflochten mein neuer Lebensleitfaden werden. 

Dieser Ansatz entpuppte sich als richtig und dessen Realisierung anfangs auch als schwierig, denn bestimmte Denk-, Sprech- und Handlungsweisen hatten sich derartig automatisiert, dass ich sie zuerst überhaupt nicht in Frage stellte. Ständig bemerkte ich eigene Fehler und korrigierte sie dann im Geist und im Handeln. So zum Beispiel einmal, als ich mich wieder einmal über die finnische Alltagsignoranz (wie sie hier in Finnland häufig vorkommt) ärgerte: Beim Spazierengehen sehen entgegenkommende Menschen lieber weg, als einen anzulächeln, und beim Keramikkurs gibt es auch einige, die nicht zurückgrüssen, wenn man den Klassenraum betritt und behandeln einen auch während der gemeinsamen Stunden wie Luft. Aus deutscher Sicht fühlt sich das wirklich nicht schön an. Was in solchen Situationen zu tun ist: Sich überhaupt nicht ärgern (= Mieter, die sich in meinem Kopf einnisten, ohne Miete zu zahlen, nicht zulassen. Oder Unkraut, das in meinem inneren Gemüsebeet nützlichen Pflanzen den Platz wegnehmen will, sofort raussreissen). Sich auf die guten Menschen konzentrieren und versuchen zu tolerieren, dass das soziale Miteinander hier nun mal etwas anders abläuft, die betreffenden Personen wahrscheinlich Probleme mit sich selbst haben, die Körpersprache in Finnland minimal ist etc. Der grösste Fehler wäre es, das Verhalten der anderen auf sich selbst zu projizieren. In solchen "ostrazistischen" Extremsituationen, wie sie hier oft vorkommen, ist es besonders wichtig, sich ganz, ganz stark für gute Gedanken zu entscheiden und sich auf das Gute zu konzentrieren, sonst kentert man auf seinem Lebensozean. 

Je mehr ich es übte, gemäss der Tugenden zu leben, desto deutlicher wurde auch, was im sogenannten alten Leben falsch gelaufen war, und dieser Fehlersack der Vergangenheit begann, immer schwerer zu wiegen. Was kann man denn tun, um diesen Fehlersack vom Rücken der Seele zu bekommen? Nichts. Die Fehler sind geschehen. Alles, was man tun kann, ist es, ab jetzt besser zu denken, zu sprechen und zu handeln und sich zu sagen: "Das war ich vielleicht mal, aber das bin ich jetzt nicht mehr." Vielleicht waren all die Fehler nötig, um zu dieser Einsicht zu gelangen.

Das Trainieren der auf Tugenden basierenden Denk-, Sprech- und Handlungsweise ist für mich ein Teil des Alltags geworden, und ich freue mich über jeden Fortschritt und jede richtige Entscheidung (es kommt manchmal auch zu Rückschlägen, aber ich lasse mich von ihnen nicht beirren). Was beim Trainieren hilft, sind angenehme Orte, freundliche Mitmenschen, bereichernde Aktivitäten oder Musik, aber auch genug Schlaf, Bewegung und gesunde Ernährung. Ausserdem habe ich ganz bewusst und ziemlich radikal Unnötiges aus dem eigenen Leben entfernt und so Luft und Raum für Wichtigeres bekommen. Ich habe mir einen angenehmeren Job gesucht und wieder mit dem Klavierspielen angefangen und stattdessen den Abendunterricht an der Volkshochschule aufgegeben, der sich neben dem normalen Tagesjob nur noch lästig anfühlte. Es ist ein schönes Gefühl, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, ansatt alles auf die Umstände zu schieben und sich in der Opferrolle verantwortungslos "von den Umständen leiten zu lassen". 

All das hat dazu beigetragen, dass ich jetzt eine Zufriedenheit spüre, das erste Mal überhaupt. Es gibt da kein innerers Kerlchen mehr, dass nachts und tagsüber ständig auf die Pauke haut und mich durchs Leben scheucht. Stattdessen gibt es da drei Katzen, von der eine gerade auf meinem Schoss wohl von Sommermorgen mit Libellengebrumm träumt und dabei zufrieden seufzt. So fühle ich mich heute auch. Alles ist gut. 



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