der Ahornbaum

 

An einem frühen Sommermorgen stoppte ich am alten Ahornbaum, streichelte einige seiner tiefgrünen Blätter und war froh, dass er gesund war. Einmal hatte ihm ein wilder Sturm einen großen Ast abgerissen. Vor einigen Jahren war er von Ungeziefer befallen worden. Jetzt aber geht es ihm wieder gut. Sechsundvierzig Jahre ist er schon alt und längst höher als unser Haus. In seinem Geäst haben zahlreiche Tiere genistet und er hat uns mit seinen anderen Ahornfreunden, mit denen er gemeinsam eine schützende Ahornhöhle bildet, schon oft Schutz gespendet. In deren Mitte stehen im Sommer immer einen Tisch und sechs Stühle.

Der Baum ist uns wichtig. Annas und Sofias Schaukel und Kletterleiter aus Kinderzeiten hängen immer noch an zweien der Äste und bewegten sich leicht im Wind. Die Ahornzweige haben während stimmungsvoller Abende mit lieben Menschen auch zahlreiche Girlanden, Wimpelbänder und Sturmlichter getragen. Und Lampions. Und Lichterketten.

Als ich da so unter dem rauschenden und lebensfrohen Baum stand, kam mir ein Gedanke. Der Ahornbaum erinnert uns täglich daran, dass nichts ewig besteht. Er ist ein Meister der Veränderung und des Loslassenkönnens. Ein Meister, von dem wir viel lernen können. Deshalb mag ich ihn so. Sofia und Anna sind ausgezogen. Das Familienleben sieht auf einmal ganz anders aus. Statt lauter, lebensfroher Diskussionen sind die einzigen Geräusche jetzt Katzengeschnurre und Heizkörperblubbern.

Im Frühling ist der Ahorn immer einer der ersten Bäume, der seine Knospen, die er schon ein bisschen im Herbst vorbereitet hat, aus den Zweigen schiebt, bis auch schon ein paar Tage später wunderbare, gelbgrüne Blüten sprießen. Sie werden eifrig von Hummeln und Bienen besucht, und die Tierchen geben ein lebensfrohes Brummkonzert, dem ich oft auf einer Sommerdecke liegend mit geschlossenen Augen lausche. Es ähnelt Mozarts Allegro der kleinen Nachtmusik.

An heißen Tagen bilden die Zackenblätter luftige Schattenplätze und geben Blätterrauschkonzerte. Sowohl Menschen als auch Katzen liegen dort oft und träumen. Zwischen zwei Bäumen bewegt sich eine Hängematte leicht im Sommerwind, die dazu einlädt, das sattgrüne, rauschende Laub zu betrachten und sich von dem Laubrauschen einlullen zu lassen. Sogar im Wohnzimmer, vor dem der größte Ahornbaum steht, herrscht im Sommer wegen des grünlichen Lichts eine magische Waldstimmung.

Der Baum bildet Samenpropeller, die rotierend durch die Septemberluft brausen und auf dem Rasen landen. Sofia und Anna haben sie sich als Kinder auf die Nasenrücken geklebt und sind als Rhinozerosse und Einhörner durch den Garten gelaufen. Im Herbst erfreut uns der Baum mit einem gelb-orangen Blättermeer, das den ganzen Garten wie ein Naturfeuerwerk erleuchtet. Die Töchterchen mochten es damals, in die gewaltigen Laubhaufen zu springen und sich in ihnen zu vergraben, sodass nur noch ihre lachenden, rotwangigen Gesichter zu sehen waren (auch ich habe gerne mitgemacht). Im Winter wird der Baum zu einem schneebestäubten Glitzerwunderwerk. Erst dann werden die zahlreichen Nester und die gewaltigen Äste sichtbar. 

Wie es wohl unter der Erde aussieht? Wie stark wohl die Wurzeln sind und wie tief sie unter die Erde reichen? Ein solcher Baum, der schon so viele Stürme, Hitzewellen und extreme Kälte überlebt hat, muss sehr gute Wurzeln haben. Ich liebe diesen Baum. Wenn keiner guckt, umarme ich ihn manchmal und rede mit ihm, und er eignet sich auch gut zum Klettern. Deshalb hängt die kleine Leiter immer noch dort. Die grüne Schummerstimmung dort oben, die noch durch ein behutsames Laubrauschen und ein leichtes Schwingen der Äste untermalt wird, ist die abenteuerliche Kletteraktion wert.

Hier ein kleines Video.






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